in Führung, Praxistipps

Führung – ein Prozessmodell

Die Frage nach effektiver Führung wird häufig mit der Schilderung von charismatischen Führungspersönlichkeiten beantwortet. Das ist zwar inspirierend, aber nur ein Teil der Antwort auf die Frage, was erfolgreiche Führung ausmacht.

Eine aktuelle Studie, die zeigt, welche Eigenschaften erfolgreiche von weniger erfolgreichen Führungskräften unterscheiden, habe ich kürzlich in einem Blogbeitrag hier dargestellt. Allerdings gibt es eine schon sehr lange zurückliegende Studie, die mein Verständnis von Führung grundlegend geprägt hat. Auch wenn es damals nicht so bezeichnet wurde, ist es meiner Meinung nach ein Prozessmodell der Führung. Ich nehme mir also die Freiheit, die damalige Terminologie hier an aktuelle Paradigmen anzupassen. Wer die Originalstudie lesen möchte, kann diese gerne von mir per Mail erhalten.

Die Autoren David G. Bowers und Stanley E. Seashore haben ihre Studie „Predicting Organizational Effectiveness with a Four-Factor Theory of Leadership“ im Administrative Science Quarterly, 11(2), 1966 veröffentlicht, damals die führende wissenschaftliche Zeitschrift für Organisationswissenschaften, vergleichbar dem, was heute noch „Nature“ für die Naturwissenschaften ist.

Sie sind der Frage nachgegangen, welche Aktivitäten einer Führungskraft die höchste Hebelwirkung für die Leistung und das soziale Klima einer Organisationseinheit hat. Sie fanden vier Faktoren, die den größten Unterschied ausmachten und aus heutiger Sicht sind das vier Prozesse, die eine Führungskraft managen muss, um erfolgreich zu sein. Meine These ist, dass genau diese vier Prozesse auch für die erfolgreiche Führung von Projekten entscheidend sind.

Prozess 1: Management der Zielklarheit und Zielakzeptanz

z.B.

  • Verdeutlichen der Arbeitsaufgabe des ganzen Teams und jedes einzelnen Teammitglieds
  • Begründung und Erklärung von Vorgaben und Ent­scheidungen in übergeordneten Bereichen, aber auch eigener Entscheidungen
  • Vertretung der Teaminteressen gegen unvernünftige Vorgaben
  • Mitsprachemöglichkeiten vorsehen

Prozess 2: Management der Entwicklung der Teammitglieder

z.B.

  • Beachtung und Ausbau der persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten
  • Ausbau der beruflichen Fähigkeiten und Kenntnisse
  • Hilfe bei persönlichen Problemen

Prozess 3: Management der Beziehungen zwischen den Teammitgliedern

z.B.

  • Anstöße zur Zusammenarbeit geben
  • Verändern und Vermeiden von Außenseiterrollen
  • Möglichkeiten der Aussprache schaffen (z.B. regelmäßige Arbeitsbesprechungen)
  • Vermitteln bei Konflikten

Prozess 3: Management der Arbeitsbedingungen

z.B.

  • Bereitstellen geeigneter Arbeitsmittel
  • Beseitigung störender Regelungen und sonstiger Hindernisse der Aufgabenerfüllung
  • regelmäßige und eingehende Information und Schulung.

Bemerkenswert ist, dass diese Prozesse nicht nur von der Führungskraft selbst erfüllt werden können, sondern dass diese in gut funktionierenden Teams in sehr hohem Maße auch von den Teammitgliedern selbst wahrgenommen werden. Es gibt eine wechselseitige Führung ohne eine formelle Vorgesetzten-Mitarbeiter-Rollenverteilung. Die wechsel­seitige Wahrnehmung dieser Führungsaufgaben (Bowers & Seashore sprechen von „peer leadership“) durch die Teammitglieder ist allerdings dort am höchsten, wo auch die Führungskraft sich stark für diese Prozesse engagiert.

Diese Untersuchung zeichnet sich gegenüber anderen Studien dadurch aus, dass die Leistungsmaße in sehr differenzierter Weise erhoben und ausgewertet wurden. Insgesamt wurden für jede Geschäftsstelle eines amerikanischen Lebensver-sicherungsunternehmens 70 Leistungs­maße sowohl auf der Grundlage betriebswirtschaftlicher Daten als auch Einschätzungen von Vorgesetzten erhoben. Von den insgesamt 100 Filialen wurden 20 aus dem auf diese Weise ermittelten ober­sten Leistungsbereich und 20 aus dem untersten ausgewählt. Durch die Untersuchung solcher Kontrastgruppen können die für die Leistung ausschlaggebenden Faktoren besonders deutlich erkannt wer­den. Es handelt sich also auch hier, wie eigentlich bei allen Studien mit echter Praxisrelevanz, um eine Kontrastanalyse.

Die Studie baut auf einer eingehenden theoretischen Analyse der vorliegenden Literatur zum Führungsverhalten auf. Die Umsetzung der theoretischen Grundlage in eine empirische Untersuchung wurde in dieser Vollständigkeit auch in späteren Studien nicht übertroffen.

Das für mich wichtige Merkmal dieses Ansatzes ist, dass nicht über Eigenschaften von Führungskräften (ob in Projekten oder in einer Linienfunktion) gesprochen wird, sondern über „Jobs to be done“. Ähnlich wie Projektmanagement in der ISO21500 und bei PMI durch ein Set von Prozessen beschrieben wird, machen es auch Bowers & Seashore. Und auch hier ist der Vorteil dieses Ansatzes, dass man nicht über Persönlichkeitseigenschaften spricht, die nur schwer und vor allem nicht kurzfristig veränderbar sind, sondern über das, was zu tun ist. Wenn man selbst in einem dieser Prozesse nicht so kompetent ist wie gewünscht und notwendig, kann man auch delegieren. Und den Hinweis auf die Möglichkeit und Mächtigkeit von „peer leadership“ habe ich sonst nirgends in dieser Klarheit gefunden. Das Konzept des „Empowerments“ ist damit sicher eng verwandt, wenn auch nicht identisch. Daher meine ich, es lohnt sich auch heute noch, das schon 50 Jahre alte Führungsmodell von Bowers& Seashore zu kennen. Ich habe das über Jahrzehnte in Führungstrainings mit großer Resonanz verwendet und habe selbst bei Top-Unternehmen wie z.B. Daimler Benz nie jemanden getroffen, der es schon gekannt hätte.

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